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26.03.2022
Darum ist GA4 nicht nur ein Update
Google Analytics 4 ist nicht das erste Update für die etablierte Lösung für Webanalyse. Die Nummer im Namen ist allerdings irreführend: Anders als alle anderen Updates handelt es sich weder um ein einfaches Refresh der Oberfläche noch funktionale oder technologische Erweiterung der bestehenden Version - es ist ein vollkommen neues und dramatisch anderes Produkt. Mit vielen Konsequenzen, die den Umstieg von Universal Analytics deutlich von den vorherigen Updates unterscheiden. Dieser Beitrag zählt die Kernunterschiede und die sich daraus ergebenden Konsequenzen und Chancen auf.
Zu viel zu lesen? Alternativ in den Couch Modus wechseln: Über die wesentlichen Unterschiede, Hürden und Vorteile, welche in diesem Beitrag beschrieben werden, habe ich eine kurze Zusammenfassung im Video erstellt.
GA4: Neu entwickelt ohne Ballast der Vergangenheit
GA4 ist in allen Aspekten neu und teilt mit dem Vorgänger streng genommen nur den Namen. Hinter allen Bemühungen, sich als Nachfolger für Universal Analytics anzubiedern, schlummern teilweise dramatische Unterschiede, die darauf basieren, dass GA4 "vollkommen neu gedacht" wurde. Ein paar Beispiele:
Neues Datenmodell
Vorbei sind die Zeiten von Seitenaufrufen, Ereignissen, Transaktionen, Timing und E-Commerce-Nutzlasten, die Huckepack zu Analytics gesendet werden mussten: Alles ist ein Event. Das ist bei anderen Tools ebenfalls nicht unüblich und vereinfacht z. B. die gemeinsame Haltung von Daten, die aus Apps oder von Websites stammen. Es bedeutet zudem den Tod von Benutzerdefinierten Dimensionen und Metriken, wie man sie kennt. Eigenschaften auf Ereignis- und User-Ebene sind der Ersatz. Das zeigt unter anderem, dass die Sitzung als Konzept in den Hintergrund rückt. Plötzlich gibt es Quelle und Medium auf mehreren Ebenen. Das ist sowohl viel flexibler als auch dramatisch anders als vorher - Verwirrungspotential für Universal-Analytics-Kundige inbegriffen.
Gebaut für eine Zeit ohne vollständige Daten
Webanalyse hat nie "die Wahrheit" abbilden können. Musste sie nie. Aber: der Fehler in den gemessenen Daten war bis zu einem gewissen Grad beherrschbar. Browser-Trackingschutz, rechtliche Änderungen und Consent haben die Lage grundlegend verändert und die Lücke wachsen lassen. GA4 geht den notwendigen Weg, diesem Trend mit Modellierung und Machine Learning entgegenzuwirken. Dabei ist allerdings weder Kontrolle noch Transparenz über den Einfluss der Algorithmen und Umfang modellierter Daten ein Hauptmerkmal. Zudem sind Datenlieferanten wie Signals und der Consent Mode durchaus umstritten. Das schmälert nicht die Tatsache, dass nur auf Basis gemessener Daten immer weniger Vertrauen in die eigenen Entscheidungen zu finden sein wird und GA4 hat einen Lösungsansatz dazu.
Keine Filter und Views
Für viele eine wesentliche Hürde ist der faktische Wegfall (wenn man nicht zu Analytics 360 greift) von Datenansichten, wie man sie aus UA kennt. Ich kann das nachvollziehen und teilen, aber nicht als echte Hürde (die kommen gleich) einschätzen, denn oft ist nur die Gewohnheit der Grund, warum dieses so wertvolle Feature vermisst wird. Andere Tools haben selten vergleichbare Konzepte und man ist von Haus aus auf Segmentierung, "Live" Filter in den Daten oder eine Form von mehrfacher Datensammlung oder Roll-Up Properties (in GA360 oder anderen Lösungen, wo es ähnliche Angebote u. U. gleichfalls gibt) angewiesen.
Hürden
Andere Oberfläche
Ob man nun allein mit GA arbeitet oder im Team: Die Unterschiede in der Oberfläche sind enorm. Aussehen, Navigation, Bedienung... alles ist anders als in Universal Analytics. Während man so etwas in einem Tool anderer Hersteller erwartet und daher einfacher akzeptiert, ist das bei GA4 anders. Denn man erwartet die bekannten Dinge wieder zu finden und begibt sich so schnell auf den Holzweg auf der Suche nach Ersatz für die benötigten Reports und Zahlen. Außerdem gibt es zahlreiche Besonderheiten in GA4, die man so i. d. R. nicht erwartet, wenn man von Universal Analytics oder einem anderen Tool kommt.
Gepaart mit der (nicht für alle hilfreichen) Tatsache, dass man in GA4 noch mehr unterschiedliche Wege hat, um an ein Ziel zu gelangen und zugleich einige Ziele noch unerreichbar sind, kann man mit dem Kennenlernen in Eigenregie eine große Menge an Zeit verschwenden und Ablehnung aufbauen. Eine echte Gefahr also, denn GA4 ist selbst ohne UA-Vorbelastung kein Tool, das man im Selbststudium leicht beherrschen wird. Das war bei UA in gewisser Weise anders / einfacher.
Nicht die gleichen Funktionen
"Funktionsparität" gibt es nicht und wird es vermutlich nie geben. Wie oben schon beschrieben ist GA4 keine Weiterentwicklung mit Abwärtskompatibilität zu den bestehenden Daten. Auf der Haben Seite stehen bereits eine ganze Menge an bekannten und neuen Funktionen, mit denen GA4 funktional deutlich über anderen Lösungen steht, die schon länger existieren. Zwei Dinge machen den Umstieg derzeit besonders schwierig: Selbst herauszufinden, was da ist und was ist, erfordert viel Zeit und ist nicht zu 100% durch Lesen von Featurelisten o. Ä. zu erzielen. Außerdem gibt es keine konkrete Roadmap, die aufzeigt, welche Features wann zu erwarten (und überhaupt geplant) sind. Im Lichte eines konkret benannten Todestages für Universal am 1.7.2023 ist das ein echtes Problem, wenn sich bei der Evaluierung von Universal Analytics-Alternativen herausstellt, dass es GA4 an für die eigene Nutzung wesentlichen Funktionen mangelt.
Nicht die gleichen Schnittstellen
Eine unbestreitbare Stärke ist die enge Verzahnung von Universal Analytics mit anderen Produkten der Google Welt; allen voran (aber nicht allein) Google Ads. GA4 bietet dies ebenfalls, dennoch gibt es Unterschiede im Detail und nicht alles unbedingt kann wie gewohnt angebunden und weitergenutzt werden.
Problematisch wird es dort, wo externe Tools z. B. über das Google Analytics Measurement Protocol angebunden waren. Denn dessen Nachfolger ist noch nicht sehr weit und lässt Wesentliches vermissen. Genauso sieht es mit den APIs aus, mit denen auf Daten von GA4 zugegriffen oder die Einrichtung automatisiert und Schnittstellen zu Tools wie Google Data Studio betrieben werden.
Kein Cookieloses und consentfreies Tool!
Für eine Sammlung reduzierter Daten, wenn es an Zustimmung fehlt, ist Google Analytics 4 jenseits des Consent Mode als Eingangssignal für die Modellierung nicht gedacht. Der Consent Mode ist zudem strittig. Für eine Anbindung in Szenarien, wo keine Cookies genutzt werden dürfen und keine Zustimmung zum Tracking besteht, sind Lösungen daher, wenn vorhanden, bestenfalls mit Aufwand und Kosten selbst aufzusetzen, als paralleles Tracking in einem anderen Tool zu betreiben bzw. als Add On von Drittanbietern zu "mieten" und müssen daher separat in die Kostenbetrachtung einfließen.
Tracking muss umgebaut werden
Ein einfacher Austausch des Trackingcodes wie bei den vorherigen Generationswechseln von Urchin auf asynchrones Tracking auf Universal ist nicht genug, um auf GA4 umzusteigen. Wie beim Umstieg auf jedes andere Tool sind die Eigenheiten des Datenmodells zu beachten. Ja: Es gibt ein paar Konzessionsentscheidungen, wenn es um Details wie E-Commerce im dataLayer geht. Das ändert nichts daran, dass das Tagging auch beim Umstieg auf GA4 komplett neu gedacht und gemacht werden muss.
Vorteile
Bei allen Problemen, die den Einzelnen mal mehr und mal weniger treffen: GA4 hat eine Menge Vorteile, die genauso unterschiedliches Gewicht für jeden haben können, der an einen Wechsel denkt.
App + Web Modell
Vor dem Namen GA4 trug der Universal - Nachfolger noch "App + Web" in der Bezeichnung. Das ist wie schon beim Datenmodell beschrieben durchaus Programm: Die Vereinheitlichung von Universal Analytics und Firebase war ein wichtiges Ziel. Für Google. In der Realität kenne ich nur Ausnahmen, für die App Tracking wirklich ein Thema ist und daher ist dieses Argument oft (noch) irrelevant für Umsteiger.
Weniger Sampling
Jeder mit etwas mehr "Musik" auf der eigenen Website wird sich hingegen freuen zu erfahren, dass Sampling und ewige (oder abgebrochene) Ladevorgänge in Reports deutlich abgemindert bzw. zu, Teil vollkommen eliminiert sind. Natürlich hat auch GA4 seine Grenzen, wenn es um die Bereitstellung komplexer eigener Reports geht, aber das bekannte Sampling bei größeren Datenmengen (gern in Zusammenhang mit sekundären Dimensionen ein echter Analysekiller in UA) setzt, wenn überhaupt, deutlich später ein als gewohnt. Das ist zweifelsfrei eine gute Nachricht. Wie bei UA kann man bestehende Limits zudem via GA360 weiter anheben.
Machine Learning
Wenn es bis hier geklungen hat, als sei der eingebaute Anteil an Machine Learning in GA4 evtl. eher ein Problem als ein Segen: Das stimmt so nicht. Für die meisten Anwender wird es nicht möglich sein, das Thema selbst in seine Analysen einfließen zu lassen. Man kann zu Gunsten von mehr Kontrolle darüber, welche Faktoren die modellierten Daten beeinflussen, bei ausreichender Menge und Budget zu BigQuery greifen oder anderweitig das User Interface von GA4 mit den Daten verlassen. Das ist oft schlichtweg unrealistisch, unwirtschaftlich... oder unmöglich, weil die Datenmenge es kaum hergeben / rechtfertigen wird. Und so profitiert man in GA4 selbst von einem vollständigeren Bild über modellierte Conversions, neuen Metriken wie der Kaufwahrscheinlichkeit und anderen Prognosemesswerten sowie neuen Zielgruppen für das eigene Marketing.
BigQuery
Die Anbindung von GA4 zu BigQuery ist ein vielgenanntes Killer-Feature für GA4. Das stimmt auch - unter der Voraussetzung, dass man mit den Daten dort etwas anfangen kann (und sich deren Haltung auf der Google Cloud Platform leisten kann und will). Es ist zwar nicht der einzige Weg, Daten von der eigenen Website oder App in BigQuery zu bekommen, aber das neue Datenmodell erlaubt das Schließen vieler Lücken, die in GA4 derzeit noch bestehen und erlaubt die einfache Weiterverarbeitung mit allen Mitteln, die auf der GCP zur Auswahl stehen. Je nach Wert der Daten für das eigene Unternehmen und den Möglichkeiten zur Nutzung dieses Arsenals öffnet GA4 damit ein Tor zu einer Welt, die vorher GA360 Nutzern vorbehalten war. Auch dies ist nicht für jeden Universal-Anwender gleich interessant. Der Masse wird es nicht nur keinen Vorteil bringen, sondern eher verwirren.
Neue Schnittstellen
Es gibt bereits Beispiele wie die Anbindung an das Google Merchant Center oder die ebenfalls für GA4 bestehenden eher neuen APIs zum gezielten Abruf oder Löschung der Daten einzelner Besucher aus dem Datenbestand. Hier wird - siehe Features - noch einiges passieren (müssen), aber es ist mit dem Wegfall von UA nun klar, dass neue Google Schnittstellen nur noch GA4 betreffen werden.
Argumente und Umstieg
UA geht weg
Dass Universal abgelöst werden muss, ist unstrittig. Für viele ist GA4 vermutlich nicht nur die logische, sondern auch richtige Wahl. Diese kann getroffen werden, sobald alle Aspekte bedacht sind, die im Zusammenhang mit einer Migration zu GA4 oder anderen Lösungen berücksichtigt werden müssen, um den unvermeidbaren Prozess mittelfristig zu einem Erfolg zu machen. Der oben bereits verlinkte Blogbeitrag zeigt die Komplexität auf, die darin steckt - und einen Weg, wie man zum Ziel kommt. Oder wenigstens zum Start.
Auf Detailebene besser
Vieles ist jetzt schon flexibler, umfangreicher, einfacher oder aus anderen Gründen je nach eigener Perspektive "besser" in GA4 gelöst als im Vorgänger. Sich auf diese Dinge zu konzentrieren ändert zwar nichts daran, dass es an anderen Stellen noch Lücken geben mag, dennoch lindert es (gezielt eingesetzt) die unvermeidbaren Schwierigkeiten, die ein Umstieg mit sich bringt. Existierende Reports werden laufend ausgebaut. Feedback hat in dieser Phase noch Chancen, in ds Produkt einzufließen und Google scheint dies (leider eher unvorhersehbar) gelegentlich Ernst zu nehmen. Jetzt noch rudimentär umgesetzte Features haben deshalb Potential, zumindest bald besser zu sein als das Bekannte.
Features reichen aus
Google Universal Analytics ist wie ein altes, aber gut gepflegtes Lieblings-Kleidungsstück. Niemand legt es gern ab. Ist es irgendwann kaputt, findet man sich damit ab und sucht einen Ersatz. So ist es auch beim Wechsel auf GA4: Nicht alle Taschen hat man jemals gebraucht und in manchen waren Dinge, von denen man nicht wusste, dass man sie noch besitzt. Universal Analytics hatte viele solcher Taschen. Als "Universalprodukt" musste es per Design 100 Funktionen haben, die man eigentlich nicht benötigt - dafür fehlen vielleicht andere oder sind nicht so ausgeprägt, wie man es sich wünscht. Fokussiert man sich auf die wirklich benötigten Dinge, kann ein Nachfolger deshalb vielleicht sogar in kleineren Tools gesucht werden und GA4 reicht in seinem jetzigen Umfang schon vollkommen aus um das zu erzielen, was man bisher eben mit Universal Analytics angestellt hat.
Jetzt vs. später?
Egal ob ein Umstieg auf GA4 oder ein anderes Produkt ansteht: Viel Zeit bleibt nicht mehr. Im Fall von GA4 ist es allerdings besonders schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Wie kann man GA4 in seiner Nutzbarkeit einschätzen, wenn noch nicht alles da ist? Während man beim Wechsel des Herstellers also auf einen bekannten Umfang setzen kann, hat ein Wechsel zu GA4 bei noch fehlenden wesentlichen Funktionen für die Abdeckung der eigenen Anforderungen etwas von einer Wette. Und das unter Druck. Ob das wirklich Absicht war oder auf die Liste der fragwürdigen Entscheidungen gehört, die Google bei Ablösung und Einführung von Trackingtechnologien getroffen hat, fällt nicht ins Gewicht.
Ist GA4 der gefundene Nachfolger, muss entschieden werden, ob man so früh wie möglich startet, um bereits historische Daten zu haben, wenn Tag X kommt. Es besteht die Chance, dass man dabei ggf. Umwege und Workarounds implementiert, die man wieder um- oder rückbauen muss, wenn GA4 nachgereift ist. Mit jeder Woche, die man verstreichen lässt, wächst auf der anderen Seite bei der derzeitigen Schlagzahl der Entwicklung bei GA4 die Feature-Liste. Keine leichte Wahl - zugegeben. Wenn es die Ressourcen zulassen, ist ein früher Start aber immer besser als ein späterer. Das gilt nicht nur beim Sport und im Wettbewerb, sondern auch bei Projekten. Vor allem diesem 😉